Sommer in der Stadt – Fotogeschichte: Zuerst war da der Klang einer Gitarre. Ganz zart. Ich schlenderte gedankenversunken durch die Fußgängerzone von Passau und nahm die Musik wahr. Und da sah ich den schmächtigen jungen Mann vor mir, ganz vertieft in sein Spiel und seinen Gesang. Ich hörte, dass es keine nachgesungene Melodie war. Es musste etwas Eigenes sein … das machte mich neugierig. Gegenüber von ihm war eine freie Sitzbank; ich setzte mich und hörte ihm zu, beobachtete ihn. Da trafen sich unsere Blicke. Wir beide lächelten uns an und sofort entstand eine Verbindung.
Sommer in der Stadt – Fotogeschichte
Die Menschen um uns herum waren sehr beschäftigt, in Gedanken, bepackt mit Einkaufstaschen. Viele hasteten an ihm vorbei, ohne eine Sekunde stehen zu bleiben. Nur Wenige verweilten einen kurzen Augenblick. Wenn jemand ein paar Münzen da ließ, bedankte sich der Musiker mit einem strahlenden Lächeln und einer Verbeugung.
Genau diese Situation zeige ich in meinem Foto.
So stand er manchmal fast wie ein bisschen verloren da und sang. Ich stellte mir vor, er sänge nur für mich. Es waren deutsche Texte, einfühlsam und voller Emotion. Nach jedem Lied klatschte ich und er nickte mir freundlich zu. Was für sympathischer junger Kerl, der sich anscheinend auf diese Weise etwas dazuverdienen und seine Musik bekannt machen wollte.
Ich hatte meine Kamera dabei und machte ein paar Fotos von ihm. Mich faszinierte das Verschmelzen seines Spiels und seiner Stimme mit ihm als Ganzes. Ich spürte, dass er das, was er gerade tat, voller Leidenschaft und im Hier und Jetzt praktizierte.
Da in seinem Gitarrenkoffer unter anderem seine E-Mail-Adresse geschrieben stand, beschloss ich, ihm ein paar meiner Bilder zukommen zu lassen. Warum ich nicht gleich auf ihn zuging, weiß ich heute nicht mehr.
So kam unser Kontakt später über das elektronische Postfach zustande. Lukas Reiner schrieb mir tatsächlich zurück und bedankte sich sehr für die Fotos. Das war vor drei Jahren. Seitdem sind wir in losem Kontakt miteinander.
Künstlerportrait Lukas Reiner
Ich bat Lukas um ein photographisches Künstlerportrait. Er war ganz offen dafür und wir verabredeten uns im Herbst an einem wunderschönen Ort in der Nähe von Passau, am „Taferlsee“. Wir verstanden uns von Anfang an gut und redeten miteinander, als würden wir uns schon lange kennen. Sein Tiefgang im Gespräch beeindruckte mich, war er doch noch so jung. Es schien, als würde er jedes Wort wohl überlegen, bevor er erzählte. Lukas gab mir auch das Gefühl, mir genau zuzuhören. Eine Eigenschaft, die nicht vielen Menschen zu eigen ist. Es machte riesigen Spaß, ihn abzulichten. Er erzählte mir, dass er Gitarrenbauer lernte und danach Musikproduktion studierte. Die Gitarre, auf der er spielt und mit der er unterwegs ist, baute er selber. Geboren in München und größtenteils aufgewachsen im niederbayerischen Rottal geht Lukas seinen Weg, fast wie ein mittelalterlicher Troubadour, mit der eigenen Musik auf Wanderschaft. „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader fiel mir dazu spontan ein.
Er zeigte mir seinen nicht ausgebauten, alten VW-Bus mit Matratze darin. Dort wohnt er, wenn er unterwegs in verschiedenen Städten ist. Oft ist er in Italien, wo er eine kleine Tochter hat (Zwei Jahre später erfuhr ich aus seinem Lied „Mio Amore“, dass Lukas‘ Liebesbeziehung leider auseinanderging.). Ein Tingeln durch zwei Welten für einen feinfühligen, sensiblen Menschen, das es durchzuhalten und auszuhalten gilt.
Dann kam Corona. Lukas wohnte mittlerweile in der Altstadt von Passau. Auf den sozialen Kanälen gab er kleine Live-Konzerte für seine Fans. Einer davon war ich. Im Laufe der Zeit folgten mehrere Musikvideos und eine erste Single.
Album Routine
Im August 2022 wusste ich von ihm, dass er mit seinem inzwischen herausgegebenen Album „Routine“ wieder in Passau gastierte. Da sahen wir uns wieder und freuten uns sehr.
Im Booklet seines Albums ist ein von mir gemachtes Foto auf der mittigen Doppelseite abgebildet. Was für eine Ehre für mich.
Lukas Reiner entschied sich für ein freies und unabhängiges Leben als Liedermacher und Straßenmusiker; dafür empfinde ich Hochachtung. Und sein Plan geht auf. Er kann davon leben. Möge dieser Traum, den er lebt, noch lange eine lebbare Realität bleiben.
Übrigens bekomme ich von Lukas ein privates Konzert an Ort und Zeit meiner Wahl als Gegenleistung. Er vergisst es nie mich daran zu erinnern, damit ich auch ja darauf zurückkommen mag. Das werde ich.
Lukas ist für mich ein Juwel in unserer gehetzten und oft oberflächlichen Gesellschaft, der einen daran erinnert, wie kostbar und wundervoll das Leben sein darf.
© Ingrid Röhrner – Sommer in der Stadt – Fotogeschichte
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Eine sehr berührende Geschichte. Wenn ich das nächste Mal durch Passau gehe, werde ich Augen und Ohren offen halten. Vielleicht habe ich auch das Glück, Lukas und seine Gitarre zu entdecken.
Vielen Dank, liebe Birgit! Ich wünsche dir auf jeden Fall eine Begegnung mit Lukas. Dann grüße ihn bitte von mir.
Herzliche Grüße
Ingrid
Liebe Ingrid,
wie wunderbar, das ist eine extrem schöne Story, zu der du auch ganz feine Fotos bereitstellst!
Mir gefällt total, wie die Szene des Münzeinwurfs begleitet ist von der freundlichen Dankbarkeit des Musikers, wie auch von den durchs Bild leitenden Gesichter der Passanten + Café-Gästen. Die von dir beschrieben Unrast der Leute wird fantastisch verdeutlicht im zweiten Foto. Ganz, ganz toll. Und was für ein Glücksmoment, in dem Lukas Reiner auch noch nahezu unbeweglich verharrt. Echt genial.
Die Art deiner Belichtung der Fotos ( Stichwort Zonensystem; mittleres grau) mag ich sehr. Und es überzeugt mich auch, wie sensibel bearbeitet sie sind.
Meinen Glückwunsch zu dem Gesamtwerk, einschließlich der Tatsache, was zwischenmenschlich daraus wurde. Achtsam, aufmerksam, und erstklassig umgesetzt. Das erklärt für mich auch die Intensität der Fotos. Für mich ist das die hohe Schule, es initiiert und macht Mut, Menschen ganz und gar zu sehen, und nicht nur als „Motiv“.
Freundschaflichen Dank, verbunden mit Hochachtung und Respekt!
Herzlichst, Dirk
Lieber Dirk,
vielen lieben Dank für deinen wunderbaren Kommentar. Zudem kommt er von einem Straßenkünstler der anderen Art, unterwegs mit der Kamera, mit hervorragendem Blick und Technik im Gepäck. So schön, wie du die Szene beschreibst, in der Lukas verharrt. Das Besondere ist tatsächlich der persönliche Kontakt mit ihm, der diesen Moment noch einmal tiefer beleuchtet. Das ist das Wunderbare an der Fotogeschichte.
Danke für DICH, lieber Dirk.
Herzliche Grüße
Ingrid