Meinung: Eines gleich vorab. Es geht mir bei meinem Beitrag Streetphotography – Reflexion zur weiteren Entfaltung nicht darum, die Stilrichtung oder gar Fotografierende zu diskreditieren. Im Gegenteil.
Die Stilrichtung kann ungemein Nachhaltiges schaffen, wenn, z.B. wie Ute und Werner Mahler in einem Langzeitprojekt Veränderungen in Kleinstädten der „DDR“ nach der Wende dokumentieren und dabei eben nicht Menschen vorführen, sondern eher das Phänomen der Abwanderung erkunden und auf der Suche nach Hoffnung sind. Oder Mikhael Subotzky und Patrik Waterhouse, die mit ihrem spannenden Projekt „54 Stockwerke“ die Veränderung und die Menschen im Ponte City Tower (Johannesburg) über Jahre hinweg dokumentieren. Vom exklusiven Appartementhaus zur Trutzburg von Banden und anderen Kriminellen.
Foto oben: Taubenjagd – Streetphotography – Reflexion zur weiteren Entfaltung.
Inhaltsverzeichnis
Meine Sorge in der Streetphotography
Der späte Abend fing an, die Stadt in Dämmerung zu hüllen. Zwischen schwarzen Konturen von Häuserfronten und Dom tat sich eine Lichtschneiße auf. Von deren Vorhandensein wurden Personen angezogen wie sonst nur Nachtfalter. Ich saß am Wochenende mal wieder mit meinem Notizbuch in einer Weinstube am Marktplatz vor dem Dom zu Mainz. Doch beobachtete ich diesmal nicht, wie so oft, Pärchen, die Selfies mit dem Dom im Hintergrund machten. Vielleicht war eine Fotogruppe unterwegs, denn mir schien es, als ob jeder zweite Passant Gäste der Weinstube in dieser Lichtschneise fotografieren wollte. Ich schaute mich um, nahm die Menschenmassen auf dem Platz wahr und dachte bei mir: Die aktuelle Entwicklung des Genres Streetphotography erinnert mich an die Entwicklung von Weinsorten. Portugieser oder Silvaner waren früher genussvolle Weine, bis sie auf den Geschmack der Massen trafen und mehr und mehr produzierte Menge die Qualität verwässerte.
Welche Sorge hinterlässt die „gewöhnliche“ Streetphotography bei mir? In der aufgeregten Welt der breiten Streetphotography scheinen selbstverliebte Protagonisten durch Straßen und Geschäfte zu hetzen, einen Kaffee zu trinken, auf Parkbänken zu sitzen, sie schauen in bestimmte Richtungen oder auf Uhren, als wären sie die einzigen Wesen auf diesem Planeten, während sie andere Menschen einfach ignorieren.
Auf der anderen Seite stehen die neugierigen Beobachter/Fotografen, die in der Faszination für die Welt in der Hektik innehalten … und sich selbst genauso wunderbar finden wie die Protagonisten sich. Sie warten darauf, dass jemand aus einem Schatten heraustritt, eine Kaffeetasse in die Hand nimmt, in eine bestimmte Richtung schaut oder mit Menschen eine Kommunikation beginnt. Es scheint ein Tanz zwischen Selbstverliebtheit und stillem Voyeurismus, der das Wesen der breiten Streetphotography ausmacht.
Werke der breiten Streetphotography scheinen mit der gleichen Qualität die Augen der Betrachtenden zu binden, wie es Fernseher in Kneipen tun. Unsere Augen können sich, unabhängig der Qualität des dargebotenen, nicht von dem Medium abwenden. Eine voyeuristische Neugier oder auch die Sorge etwas zu verpassen, bindet den Betrachtenden – nicht die Qualität, nicht die Botschaft des Programms oder der Fotografie.
Flut von Fotografien im Meer von Straßen
Die Qualität der Streetphotography leidet, wie so viele Fotogenre, inmitten der Flut von Fotografien, die heutzutage verfügbar sind. Auch mit der Verbreitung von Smartphones und Social-Media-Plattformen teilen mehr Menschen als je zuvor das Erlebte auf der Straße. Und es ist auch noch lange kein Talent, wenn anstatt eines kleines Teleobjektivs eine Normalbrennweite in Street verwendet wird. Durch all das entsteht eine enorme Menge an Streetbildern, darunter auch viele, die nicht unbedingt von hoher Qualität sind.
In dieser Bilderflut wird es schwieriger werden, herausragende Streetphotography zu erkennen oder sie von der Masse abzuheben. Die meisten Fotografien erzählen einfach keine Story oder vermitteln keine Botschaft, keine Dokumentation – sie durchströmt die gleiche Tristesse wie die Straßen selbst. Leider wird diese Situation manchen dazu verleiten, sich durch extreme oder sensationelle Bilder zu profilieren, anstatt durch subtile und raffinierte Arbeit.
Darf Streetphotography einfach nur schön sein?
Selbstredend muss Streetphotography nicht zwingend eine Botschaft haben, aber sie muss auch nicht nur ausschließlich schön sein. Fotografie ist Kunstform, die eine Vielzahl von Ausdrucksformen und Absichten ermöglicht. Streetphotography darf natürlich nur rein ästhetisch sein und sich ausschließlich auf visuelle Schönheit von Motiven, Kompositionen oder Licht ausrichten – vielleicht auch nur ganz streng an dem, was in diversen Streetphotographybüchern oder auf YouTube und Instagram zu finden ist.
Was wäre so schlimm, Betrachtende „lediglich“ visuell zu erfreuen und bei ihnen Emotionen hervorzurufen, ohne eine bestimmte Botschaft zu vermitteln?
Selbstredend muss Streetphotography nicht zwingend eine Botschaft haben.
Neben der Wirkung auf Betrachtende darf auch nicht die Wirkung bei den Schaffenden außer Acht bleiben. Der Spaß, die Freude und die Begegnungen beim Erschaffen, aber auch das Gefühl der Bereicherung bei der Heimkehr. Mit gleicher unschuldiger Freude, wie beim Teilen eines Selfie. Wie anmaßend wäre es, ein Urteil fällen zu wollen? Tragen jene, die “einfach nur fotografieren”, “Freude im Bild” teilen, nicht auch dazu bei, unsere Umwelt, unsere Städte anders sehen zu können?
In mir regt sich aber das Gefühl, dass die Fotografie hierbei auf halber Strecke hängen bleibt und weit unterhalb des Möglichen verharrt. Bestenfalls ist solch eine Fotografie spannend und macht neugierig, aber ist sie wirklich anregend, inspirierend und informativ?
Mein Wunsch an die Streetphotography
Die Vielfalt und Zugänglichkeit der Streetphotografie bieten auch die Möglichkeit für neue Talente, entdeckt und gefördert zu werden. Die Qualität der Streetphotography ermöglicht aber mehr. Zwar mag sie von der Masse beeinflusst werden, aber letztendlich sind es immer noch die einzigartigen Visionen und die kreative Ausdrucksfähigkeit der Fotografen, die herausragen und die Kunstform lebendig halten könnten.
Wenn nicht Menschen und Ihre Interaktionen, mit gleicher Leidenschaft und Freude wie sich die kussmundmachende Selfieersteller vor dem Dom in Szene setzen, fotografiert werden, kann Streetphotography dazu dienen, Menschen zu informieren und zu inspirieren. Sie hat das Potenzial, Betrachtern zu ermöglichen, in andere Welten einzutauchen oder die Welt um sie herum aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Und ich denke, es ist unsere Aufgabe als Fotografierende, dies zu gewährleisten.
Welche Möglichkeiten bestehen, das volle Potenzial in unserer Streetphotography zu entfalten?
Prinzipiell gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten, Potenzial in unseren Aufnahmen zu entfalten:
Als einzelne Aufnahme;
Mit anderen Fotografien in einer Serie/Dokumentation/Story .
Beide Möglichkeiten lassen wieder drei Herangehensweisen zu
Suche bzw. Zusammenführen bestehender Fotografien;
Zufällige Entstehung während des Shootings;
Planung im Vorfeld
Wir haben Hemmungen überwunden, Zeit für Übungen aufgebracht und dadurch ein gewisses Maß an Selbstvertrauen aufgebaut. Mit den Ergebnissen steigerte sich unsere Leidenschaft für das Hobby Fotografie. Und nun sollen wir die Promenaden der Selbstsicherheit wieder für ein Aufbruch in unbekannte Gassen verlassen?
Diese unbekannten Gassen befassen sich weniger mit Tatsachen und Objekten als mit Gefühlen und Subjekten. Wir wollen unser Fühlen und Denken einbringen. Obwohl dies eine neue und möglicherweise anspruchsvollere Richtung sein mag, bin ich überzeugt, dass sie sowohl für den Fotografen als auch für die Betrachterinnen und Betrachter lohnender sein wird.
Anregungen für Einzelaufnahmen
In Bezug auf einzelne Fotografien entstehen Botschaften und Inhalte oftmals nur zufällig, denn wer plant schon lediglich eine Aufnahme und geht dafür auf die Straße? Ein gutes Beispiel für eine singuläre Streetaufnahme mit Botschaft ist die zufällig entstandene obige Aufnahme des Säuglings hinter dem Handy oder unten “Alter trifft Kindheit”. Vielleicht könnte man die Fotografie des Säuglings hinter dem Hända in einer Hängung neben die Fotografie „Kein Handy am Steuer“ hängen und so einen Kontrast erzeugen.
Gleichwohl lassen sich auch einzelne, für sich stehende Aufnahmen planen. Für gelungene Fotografien ist hierbei weniger unser handwerkliches Geschick wichtig als das Stellen der richtigen Fragen. Auch wenn es paradox erscheint, eine Frage, die wir nicht stellen sollten, ist: „Ist das Foto gut?“ Denn vor dieser Frage müssten wir erst einmal definieren, was eine gute Fotografie ausmacht. Ein technisch perfektes Foto ist noch lange kein gutes Foto und schon lange keines mit einer Aussagekraft. Uns muss bewusst sein, ein Motiv gibt in der Regel erst einmal keine Antworten, keine Aussage – hat kein Leben, selbst wenn es technisch perfekt abgelichtet wird. Es ist unsere Aufgabe, das Potenzial, welches in den Gegenständen und Motiven liegt, zu entdecken, zu fühlen und wiederzugeben. Und auch wenn es auf den ersten Blick noch so logisch erscheint, nach technischen Details zu beurteilen, wie Belichtung oder Schärfe, so muss auch die Frage gestattet sein: „Ist die Schärfe für die gewünschte Aussage überhaupt wesentlich?“ Auch die Belichtung. Zu dunkel, zu hell, Schatten im Schwarz ertrunken oder Details im Weiß ausgefressen … . Wenn wir denken, dass diese Punkte wirklich wesentlich für unsere Fotografien sind, haben wir vielleicht noch nicht die richtigen Fragen gestellt.
Eine der wichtigsten Fragen, die wir uns vor dem Betätigen des Auslösers stellen sollten, ist: „Was ist meine Absicht mit dieser Fotografie?“ Und nicht: „Was denken andere, was wünschen sich andere, wie wir fotografieren sollten?“
Eine der wichtigsten Fragen, die wir uns vor dem Betätigen des Auslösers stellen sollten, ist: „Was ist meine Absicht mit dieser Fotografie?“
Anregungen für eine Fotoserie
Eine weitere Option einer Serie ist, wir fertigen eine Sammlung an. Eine Sammlung von Situationen vor typischen Motiven einer Stadt. Das geht natürlich wunderbar nachträglich. Wenn wir uns aber entscheiden eine Sammlung bewusst anzufertigen, sollten wir auch nur Motive fotografieren, die in die Leitplanken passen. Personen mit Handy, wartende Passanten an Bushaltestellen oder Eintrittskartenhäuschen, Besucher von Charityshops, geschlossene Geschäfte, Eltern, Pärchen, Jugendliche in ihrem Milieu und ja, natürlich auch Gäste in Cafés.
Es ist die Aufgabe der Fotografen, es Betrachtern zu ermöglichen, in andere Welten einzutauchen oder die Welt um sie herum aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Wäre es nicht eine großartige Vorstellung? All die Streetphotographen schließen sich zusammen und nutzen die Chance – nicht beliebig austauschbar – unsere Zeit, unsere Städte unser Lebensgefühl zu “kartographieren”?
Vielleicht wird die ein oder andere Leserin, der ein oder andere Leser motiviert und schreibt mit den eigenen Ergebnissen einen Bericht für Fotowissen.eu
Auch so, würde ich mich über einen spannenden Austausch freuen,
Ihr Bernhard Labestin
Möglichkeiten “zum Tanz”
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Dieser Beitrag ist die Meinung von Bernhard. Ich weise darauf hin, dass der Artikel nicht die Meinung der gesamten Redaktion darstellt. Ich bin aber überzeugt, dass jeder seine Meinung sagen können soll und respektiere diesen Artikel, wie auch alle anderen Artikel der Redakteure und Gastautoren.
Herzlich
Peter R.
Chefredakteur