Im Chaos eines alltäglichen Straßenbilds im genau richtigen Moment das besondere Motiv erkennen: Timing ist ein wichtiger Aspekt in der Streetfotografie. Aber wie entwickelt man die Fähigkeit, im reizüberfluteten Gewusel kleinste Details bewusst wahrzunehmen, die zu einem tollen Foto führen? Siegfried Hansen und Pia Parolin geben mit ihrem Buch eine Anleitung dazu, wie wir unsere Wahrnehmung schärfen und unseren fotografischen Blick schulen. Sie nennen es das PILOT-System. Das klingt nach einem hilfreichen Trainingskonzept. Hält die Wahrnehmungsschule auch, was sie verspricht?
Inhaltsverzeichnis
„Mit offenen Augen“ *buchrezension
„Schaust du noch oder nimmst du schon wahr?“
Wer Landschaften oder Architektur fotografiert, kann sich in Ruhe auf sein Motiv einlassen. Belichtung prüfen, Perspektiven ausprobieren, Bildaufbau gestalten – für all das bleibt Zeit. Schließlich läuft der Ausblick oder das Gebäude nicht weg. Bei der Streetfotografie lassen sich Aufnahmen und Settings meist nicht im Voraus planen. Überall lauern potenzielle Motive und überraschende Details – wenn man sie in der Flut von Eindrücken nur schnell genug erkennt. Und das ist nicht immer so einfach.
„Fotografen kümmern sich zu viel um die Technik und zu wenig um die Wahrnehmung und das Sehen“, soll der Altmeister der Straßenfotografie Henri Cartier-Bresson gesagt haben. Erfahrene Fotografen gehen innerlich eine Art Checkliste durch, bevor sie auf den Auslöser drücken und machen sich Motivwahl, Belichtung, Bildausschnitt und Komposition bewusst. Dieses theoretische Wissen braucht es, um sich fotografisch zu entwickeln und zu einem eigenen Stil zu finden. Aber besteht nicht die eigentliche Herausforderung in der Streetfotografie zu allererst darin, etwas im Bild sichtbar zu machen, was andere Betrachter der gleichen Szenerie so in der Fülle der Details vielleicht nicht so gesehen hätten? Der Schlüssel dazu ist unsere Wahrnehmungsfähigkeit. Und die lässt sich trainieren.
Gewohnte Sichtweisen verlassen
Wie das geht, erklärt das Autoren-Duo Siegfried Hansen und Pia Parolin. Hansen gehört zu den bekanntesten deutschen Streetfotografen, mit internationalem Renommee. Seine Bilder sprechen eine ganz eigene Sprache. Seine Motive findet er in Formen und Mustern, die er scheinbar zufällig in der Kulisse der Straße entdeckt. Ihm geht es weniger um Menschen als Akteure, sondern um die graphischen Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen im Bild.
(c) dpunkt Verlag 2021 – Siegfried Hansen / Pia Parolin „Mit offenen Augen. Eine Wahrnehmungsschule für die Streetfotografie“ – S9
Farb- und Schattenspiele, Linien und Flächen, in die Menschen als begleitendes Element eingebettet sind, leiten auch Ko-Autorin Pia Parolin. Die Streetfotografin beschäftigt sich als Autorin mehrerer Fotofachbücher intensiv damit, wie es uns gelingt, mit der Kamera im Anschlag unsere eingefahrenen Sichtweisen zu verlassen.
Denn genau das ist das Problem: Betrachten wir eine Straßenszene, sehen wir in dem Gesamtbild etwas, das uns anspricht. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass das ganz unbewusst geschieht. Werden wir danach gefragt, was dieses Etwas genau war, können wir es oft nicht näher beschreiben. War die Jacke blau oder grün? War das Schild rund oder eckig? Hatte der Herr mit Hut einen Stock oder einen Regenschirm in der Hand? Psychologen nennen das „Unaufmerksamkeitsblindheit“. (Mehr darüber in einem interessanten SZ-Artikel.) Wir nehmen die Details einer Szenerie selektiv wahr – alle anderen Informationen drumherum blendet unser Gehirn, das uns vor Reizüberflutungen schützt, einfach aus. Was erklärt, warum zwei Menschen, die die gleiche Situation betrachten, nicht dieselben Dinge sehen. (Das macht, nebenbei bemerkt, gemeinsame Fotowalks so interessant.)
„Das Besondere im Normalen finden“
Das selektive Sehen ist eine sportliche Aufgabe für unser Gehirn. Als Fotograf:in müssen wir in der Informationsflut einer Straßenszene erkennen, was uns beim schlichten Betrachten entgangen wäre. „Das Besondere im Alltäglichen finden“, nennen es Hansen und Parolin. „Gleichzeitig musst du filtern und trennen und nur das Wesentliche heraussuchen“, erklären die beiden. Und das alles – erfassen, erkennen und verarbeiten – im Wettlauf gegen die Zeit. Timing ist wichtig in der Streetfotografie. Denn die Motive, die unsere Aufmerksamkeit erregen, sind vergänglich und die Gelegenheit, sie einzufangen, meist nach wenigen Augenblicken schon wieder verschwunden. Klingt nach Zeitdruck und verpassten Gelegenheiten, bevor wir überhaupt zur Kamera greifen konnten? Muss es nicht, denn unser Reiz-Blocker im Gehirn lässt sich überlisten.
Mit „Triggern“ die Wahrnehmungsfähigkeit schärfen
„Viele Dinge erkennen wir erst, wenn wir uns bewusst damit auseinandersetzen“, sagt Parolin. Dieses „bewusste Sehen“ können wir lernen und einüben. Dabei helfen uns „Trigger“. Das sind bestimmte Objekte, Gegenstände, Strukturen, Formen oder Farben, auf die wir bei der Motivsuche „anspringen“. Sie „triggern“ unsere Wahrnehmung, indem sie – ohne dass es uns bewusst ist – unsere Aufmerksamkeit erregen. „Das Bedeutende an Triggern ist, dass dir Dinge auffallen, die als trivial in unserem Alltag ausgeblendet werden“, erklärt Hansen. Üben wir uns darin, auf solche Dinge zu achten, fallen sie uns irgendwann unweigerlich automatisch auf. Oder anders gesagt: Trigger helfen dem Zufall in der Streetfotografie auf die Sprünge, weil wir beim Flanieren auf der Suche nach tollen Motiven innerlich immer auf „Stand-By“ stehen.
Trigger können öffentliche Räume sein (Places), die potenziell interessante Motive bieten; Vorbilder anderer Fotografen und Künstler (Inspiration), die für bestimmte Bildstile stehen; das Spiel mit zwei oder mehreren Ebenen (Layers), die Objekte oder Personen oder Strukturen im Vorder- und Hintergrund miteinander in Bezug bringen; Gegenstände (Objects), die in Zusammenhang mit dem Geschehen im Umfeld gestellt ein spannendes Bild ergeben; Elemente oder Themen (Theme), wie zum Beispiel verlängerte Linien oder Hände. Zusammengenommen nennt Hansen die Trigger-Methode das PILOT-System. Er versteht es als Trainingshilfe, um mit den entsprechenden Ideen im Kopf die eigene Wahrnehmung zu schärfen.
Bestes Beispiel dafür ist das Coverbild des Buches: Von oben herab fotografiert, bilden die kreisrunden weißen Mützen der drei Matrosen ein Dreieck, das durch die weiße Radkappe am Bus im Hintergrund zur Raute wird. Zudem finden sich die Streifen der Uniform auf dem Bus wieder. Es ist ein plakatives Bild, das – ohne Gesichter zu zeigen! – spannend ist und eine Geschichte erzählt: Worüber unterhalten sich die drei? Kehren sie gerade von einem Einsatz auf See zurück oder geht es in den nächsten?
Schritt für Schritt zu besseren Street-Fotos
Hansen und Parolin räumen vor allem mit einem Widerspruch auf: Zwar kommt es in der Streetfotografie auf das Timing an. Um jedoch im schnellen Tempo der Stadt das Besondere auszumachen und gekonnt im Bild in Szene zu setzen, braucht man eben doch Zeit und Geduld. Manchmal entdeckt man ein perfektes Setting und muss warten, bis ein Akteur im genau richtigen Moment ins Bild kommt. Manchmal muss man zu einer anderen Zeit wiederkommen, wenn das Licht idealer ist oder die Schatten genau richtig liegen. Street-Fotos stehen zwar für Spontanität und leben von der Magie des Augenblicks, entstehen aber in den meisten Fällen nicht schnell „aus der Hüfte heraus“ geschossen. Vielmehr brauchen sie Routine und Klarheit im Kopf: „Wenn du nicht klar strukturiert bist, wirst du schnell überfordert – du siehst irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr“, warnen die Streetfotografie-Profis. Ihr Tipp: „Daher lohnt es sich, immer wieder denselben Weg zu gehen. So hast du Zeit, zu filtern.“ Legt man sich für Streifzüge durch die Stadt feste Routen zu und kommt immer wieder an denselben Plätzen oder Objekten vorbei, nimmt man immer mehr Details wahr und bekommt einen Blick für das Besondere im normalen Alltagsgeschehen.
Fazit
Die Streetfotografie wurde von Meistern wie Henri Cartier-Bresson, Robert Capa oder Bruce Gilden entscheidend geprägt. In Deutschland spielt sie noch keine so prominente Rolle, was vielleicht auch mit den rechtlichen Besonderheiten im öffentlichen Raum zu tun hat. Wie man gerade unter diesen Bedingungen trotzdem zu großartigen Bildern und einer einzigartigen Bildsprache kommt, beweisen Hansen und Parolin mit ihren jeweils ganz eignen Stilen. Darin liegt ein besonderer Reiz des reich bebilderten Buches: Wie ein und dieselbe Methode zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt. Dabei sparen die Autoren nicht, aus ihrer Arbeit zu berichten und Entstehungsgeschichten zu einzelnen Fotos zu teilen.
Im Übrigen sind die Grundlagen über die visuelle Wahrnehmung verständlich ohne wissenschaftliche Verweise erklärt. Die Erläuterungen des PILOT-Systems sind mit vielen, sehr verschiedenen Bildbeispielen illustriert und seine Anwendung wird dem Leser wie in einem Workshop gut nachvollziehbar erklärt. Damit der Blick fürs Detail am Ende zu gelungenen Kompositionen und interessanten Aussagen führt, erläutern Hansen und Parolin anhand von vielen Beispielen Regeln zum Bildaufbau und erklären die Wirkung verschiedener Gestaltungsmittel, von Blendenzahl und Belichtungszeit, Iso-Wert und Belichtungskorrektur bis Bildausschnitt, Perspektive und Fokussierung.
Für wen lohnt sich das Buch?
Wer ein einfaches Rezeptbuch sucht, wird mit der Wahrnehmungsschule nicht glücklich. Wer mehr über unsere Motiv-Blindheit, das bewusste Sehen und die Unterschiede zwischen menschlicher Wahrnehmung und dem, was die Kamera sieht, verstehen will, findet in dem Buch interessantes Hintergrundwissen. Ein Must-have ist das Buch für alle, die ihren eigenen Streetfotografie-Stil entwickeln oder verbessern möchten und dabei weniger Menschen als Hauptakteure in den Fokus nehmen wollen, sondern eher das Abstrakte suchen, in das Menschen als Beiwerk oder begleitendes Element eingebettet sind.
Siegfried Hansen / Pia Parolin
Mit offenen Augen
Eine Wahrnehmungsschule für die Streetfotografie
dpunkt.verlag 2021
32,90 €
ISBN Print: 978-3-86490-855-2
ISBN PDF: 978-3-96910-587-0
Abmessungen 19.1 x 2 x 24.8 cm
212 Seiten – Softcover
Tipp: Printausgabe und PDF
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PDF und Buch beim Verlag >>© Kira Crome – „Mit offenen Augen. Eine Wahrnehmungsschule für die Streetfotografie“ *buchrezension
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Liebe Frau Crome,
danke für Ihre interessante Buchbesprechung. Ich tue mich ein bisschen schwer mit dem Untertitel „Eine Wahrnehmungsschule für die Streetfotografie“. Wie Hansen auf seiner Website schreibt, stehen für ihn nicht die Menschen im Vordergrund seiner Aufnahmen, sondern die grafischen Beziehungen und formalen Verbindungen zwischen Elementen wie Formen, Flächen oder Linien des Alltags. Fotos in diesem definierten Sinne können Sie überall machen, auch in Ihrer Wohnung. Das wäre dann allerdings keine Straßenfotografie mehr.
Ich verstehe das Anliegen des Buchs dahingehend, dass es darauf ankommt, jederzeit erlerntes, trainiertes „Sehen“ auf bestimmte Situationen anwenden zu können. Dies widerspricht nicht dem „Schuss aus der Hüfte“. Wessen Gehirn „klar strukturiert“ ist, wird auch die „Magie des Augenblicks“ erfassen können. Das Titelbild bestätigt dies. Hansen hat sofort die Möglichkeit der Aufnahme gesehen und abgedrückt. Ein, zwei Augenblicke später wäre möglichweise der Bus weggefahren, oder die Matrosen hätten sich getrennt. Die Aufnahme wäre damit verloren gewesen.
Abschließend einen Satz zu Ihrer Bemerkung, in Deutschland spiele die Straßenfotografie noch keine große Rolle. Ich stoße mich ein bisschen am Wort „noch“. Es gab in den 50er und 60er Jahren fantastische deutsche Straßenfotografen. In Köln lebte Chargesheimer, der z.B. die Straße „Unter Krahnenbäumen“ fotografiert hat. Aus Düsseldorf stammte Dirk Alvermann, der tolle Fotobücher u.a. zu seiner Heimatstadt und dem Ruhrgebiet gemacht. Sie und andere mögen heute vielleicht nur noch wenig bekannt sein, aber es lohnt sich in jedem Fall, ihre Bücher anzuschauen und sich, ganz im Sinne von Hansen und Parolin, inspirieren zu lassen.
Herzliche Grüße, Detlef Rehn
Vielen Dank, lieber Herr Rehn, für Ihre Hinweise. Ich verfolge sie gern weiter. Ob das Buch tatsächlich zur Streetfotografie zählt, darüber bin ich auch gestolpert. Schaut man sich die Arbeiten der beiden Fotografen an, sehen wir Street-Fotos, die Menschen nicht zum Hauptakteur machen, sondern sie als Bildelemente neben anderen ins Bild einbetten, ihnen also keine Hauptrolle zuschreiben. Ein interessanter Ansatz, weil hierzulande viel darüber diskutiert wird, was Streetfotografie darf ohne gegen Persönlichkeitsrechte zu verstoßen. Aber darüber lässt sich gewiss trefflich streiten… Beste Grüße Kira Crome
Liebe Kira,
herzlichen Dank für die Zeit und Energie, die du in Lektüre und Aufarbeiten des Buches gesteckt hast, und auch für die Vorstellung selbst. Ich kenne das Buch selbst (noch) nicht, würde aber denken, deine Betrachtungen und Einschätzungen treffen es ziemlich gut.
Für mich zeigt sich durch dieses Buch eine weitere Facette von „Street“, die ich nach meiner Definition eher im Randbereich sehen würde. Die Autoren sehen es sicher eher mittendrin, und dafür meine Ansätze vielleicht am Rand. So ist das eben. Jeder schaut anders. In dem Punkt Schauen wird das Buch wohl am ehesten „für jeden“ was dabei haben, und das ist sicherlich auch einer der bedeutsamen Umstände der Fotografie überhaupt! Kaufen würde ich es mir jetzt nicht, aber unsere Stadtbibliothek ist recht aktuell sortiert, mit großer Fotobuch-Ecke, bin dort regelmäßig, vielleicht taucht es dort ja beizeiten auf.
Liebe Grüße, Dirk